Ein Pseudonym? – Der bedrohten Freiheit entkommst du nur im Mantel der Unsichtbarkeit – als lebendiger Mensch. Wozu sollte jemand sinnvoll noch fähig sein, wo er sich nur den Konventionen angepaßt zeigen dürfte, sich berauben lassen müßte seinem ureigenen Gefühl, seiner originären Sprache – um einer falschen Anerkennung willen?! Der Verlust deiner Identität gliche dem Verlust deines Lebens. Doch niemand vermißt irgendeinen Seins- oder Geisteszustand, der ihm nie begegnete, ihm daher niemals erkenntlich geworden sein kann...
Die Mauer zwischen Ost und West steht: da erblickt sein Name das Licht der Welt und den azurnen zukunftshellen Himmel über der Deutschen Demokratischen Republik. Je länger der Untergang der DDR zurückliegt, umso häufiger wird er stolz darauf hinweisen, ein Kind der DDR zu sein – geblieben zu sein: Behütete, unverfälschte Kindheit, in Krippe, Kindergarten, Hort, Ferienlager. In einem davon, mit 10, das erste Mal bewußtseinswach überwältigt von der unfaßbaren Schönheit eines taufrischen Sommermorgens, der überirdischen Macht und Verheißung der Mädchenblüte, einer Ahnung vom Dasein des allgnädigen Vaters... Der leibliche hingegen verläßt die Familie – ein belangloses Ereignis für den mütterlich Geliebten. Klassensprecher, FDJ-Sekretär, das Angebot einer Kandidatur für die Parteimitgliedschaft – erstmals stellen sich Begriffe des Paradoxen zu seinen Anschauungen: Wozu sich bekennen? Kann es eine höhere Logizität als ‚Kommunismus, Sozialismus – Solidarismus‘ – geben?! Nimmer aber unter irgendeiner Unfreiheit des Herzens, des Willens, des Verstandes! – Laienspiel, Kabarettbühne. Die erste Schreibmaschine, eine Optima, Baujahr 1933: mit 12 schleppt er sie für 10 DDR-Mark von einem Flohmarkt nach Hause; mit 14 Abschrift einer fast zerfallenen Aphorismensammlung von Marie Ebner-Eschenbach – ‚um sie zu bewahren‘... Dieser konzeptionelle Erhaltungs- und Selbsterhaltungsdrang wird sein Leben bestimmen und fordern…
Diderot, Flaubert, Goethe, E. T. A. Hoffmann, Kleist, Rousseau, Schiller, Shakespeare, Stendhal, Voltaire, Zola. Viel später erst: Benn, Cassirer, Dostojewski, Hebbel, Theodor Lessing, Meyrink, Nietzsche, Rolland, Schopenhauer. Noch später: Drewermann, Levinas, Tagore. Lehre, Studium, Berufserfolge, Berufseinbrüche, Partnerschaften, Trennungen, Krisen, Auferstehungen, Neuerweckungen – ewig wiederkehrend auf dem Rad von Ambivalenz und Täuschung...
Die ihn bestimmenden astrologischen Urprinzipien-Signaturen (nach Dahlke/Klein: ‚Das senkrechte Weltbild‘): akribisch, analysierend, ängstlich, beschreibend, beweglich, detailorientiert, dienend, differenzierend, enthaltsam, existenzbesorgt, feingliedrig, fleißig, keusch, kühl, linear, listig, logisch, mager, materialistisch, methodisch, mißtrauisch, nüchtern, ökonomisch, pedantisch, präzise, rationell, ruhig, schulmeisterlich, sorgfältig, spröde, systematisch, tugendhaft, vorausschauend, warnend, zergliedernd, zergliedert, zurückhaltend, zuverlässig, zynisch; Tag der Mitte: Mittwoch = Merkur als Mittler; zentrale Aufgabe = Vertrauen lernen…
Die Lebensangst überwältigte schon den Neugeborenen – aus dem Tagebuch der Mutter: „Er war zart und klein, 2950 Gramm schwer, 49 cm lang. Von diesem Gewicht baute er schrecklich ab, daher die Transfusion. Schrecklich wund bekamen wir das Kind aus dem Krankenhaus zurück, zuerst wollte es gar nicht heilen. Doch als ich ihn dann baden konnte und er sich auf zu Hause eingestellt hat, gelang es. Schon mit knapp vier Wochen aß er mit großer Würde geriebene Äpfel und zwei Tage später auch Bananen, nicht etwa eine halbe, sondern gleich die ganze.“ – Mit anderthalb: „Unser Äffchen steht zu gern vor dem Spiegel und beguckt sich in allen Lagen und Stellungen und er ist sehr empfindlich: Wenn man sagt: >Du, wir holen uns jetzt gleich einen neuen Jungen, wenn du nicht artig bist<, ist es erstaunlich, wie er darauf reagiert: Sofort ist er lieb.“ – Mit zwei: „Alle zusammengesetzten Worte, die er zum ersten Mal hört, gibt er sofort richtig wieder, wie z.B. Schreibpapier, Kaufhaus oder Rolltreppe.“ – Mit vier: „Mama, laß uns die Straßenseite wechseln, dort sind weniger Menschen.“
Menschenscheue – erste bewußt erinnerte Ereignisse dazu: Im Kindergarten baut er aus Balken und Klötzen einen mannhohen Turm – Übermacht und Übermut der Raufbolde reißen ihn ein. Bald spielt er lieber mit Mädchen als mit Jungen. Überhaupt: Gruppen sind ihm früh suspekt, intuitiv spürt er ihre dynamischen Hinderungen, ihre zwanghaft-hierarchischen Forderungen – die das erste Gebot der souveränen Anschauung unterminieren: Freiheit des Denkens und Fühlens! So befindet er sich schnell außerhalb der Gemeinschaften, ein ‚Einzelgänger‘: Die Kerle lassen ihn stehn oder hauen ihm eins aufs Maul. Als einziger Junge in seiner Klasse hat er Angst vom 3-Meter-Turm zu springen – abgrundtiefe Schande. Sein Gedichtvortrag gilt dagegen als Referenz – Rettung und Ankerpunkt seiner Identität… Erste Versuche mit 20:
Sag mir, Herz, was ist die Welt?
Ein Wort, ein Spiel, um Ruhm und Geld?
Wer rät mir meine Schritte wenden,
meinen Blick, meinen Sinn zu senden,
wohin, warum, was im Leben man beginnt,
wo die Kraft, mein Tun ein Ziel gewinnt?
Ein Wust, verwirrt in Spinnenweben,
sind wir verstrickt, im Mammonstreben,
und schleichen blind und unbesonnen
nur trachtend tausend eitler Wonnen
im dunkeln Tal herum, auf faulem Weg,
und fruchtlos unser Tun zuletzt verweht.
Und sag, Herz, wo ist die Liebe hin,
die einz’ge, die die Hoffnung heilt, und Sinn
und Zweck all meines Strebens teilt;
hat sie bei dir denn schon verweilt?
Sagst du mir nein, kann ich versteh’n –
wird unsre Welt zuletzt an Kälte untergeh’n.
Erste Sinnsätze, oft künstlerischen Fragen zugewandt, 1985: „Die Form sagt alles vom Inhalt. Der Inhalt ist Gedanke, Gefühl, ist ungegenständlich. Erst die Form hat die lesbaren Zeichen, hat Gegenständlichkeit.“ Erste sozialphilosophische Reflexionen, 1986: „Wie es sich die Menschen absichtlich schwer machen, um ihre Plätze zu halten, keinen anderen aufsteigen lassen, wie sie aus Angst, verdrängt zu werden, kleinmütig und gehässig werden.“ Oder: „Die Zweckorientierung der Gefühle: Dadurch werden echte Gefühle zu Komplexen, untragbar, unbeherrschbar.“
2022, zwei Nachbetrachtungen, in Beschäftigung mit den Gedichten Friedrich Schillers „Die Gunst des Augenblicks“ und „Der Taucher“:
Beglückend hoch die Freude,
Die aus der Götter Schoß
Uns ungezwungen fallet zu;
Doch reicher noch die selbsterrung’ne,
Durch Werk und Hingabe erschaffene:
Sie widerhallt im Himmel und zückt
Vervielfachend ins irdische Erleben
Als schönstes Funkenlicht zurück
Zu menschlich-göttlichem Erheben!
*
Mußt tief hinab – zu sehen, anzunehmen
Das königliche Zepter deines Seins;
Doch kehrst vom tiefsten Grund der Gründe
Entleibt, verkehrt, verloren nur zurück:
Du sahst – in’s leere Maul der Sünde,
Das Grauen deines Weges Glück,
Das formlos unbestimmbar Leere,
Das dräuend unentrinnbar Ewige...
Geschenk
frei
werden,
frei werden von allem,
wie ein weißes Blatt,
ein weißer Strand,
eine weiße Wand,
wie ein Spiegel,
der alles aufnehmen
und alles wieder
vollkommen abgeben kann,
ein Sein, von allem frei,
nichts kann dort sein,
was beunruhigt und stört...
bitte, bitte,
nun ist es gut –
bitte –
laß es einfach sein,
hör einfach auf –
mach dir dieses Geschenk...
*
...
Briefe
Schriften
Sentenzen
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